[A-DX] Aus dem A-DX Archiv: Adieu - der letzte Tag bei ROI (lang)

Christoph Ratzer
Samstag, 07. August 2021, 17:22 Uhr


Adieu - der letzte Tag bei ROI (lang)
von Wolf Harranth, 30. Juni 2003, 22.49 MESZ in unserer A-DX Liste.

08:30 - Noch etwas müde (wir sind gestern erst am späten Abend von der Ham
Radio in Friedrichshafen zurückgekommen) im Funkhaus eingetroffen.

10:30 - Nach zwei Stunden sind der Kastenwagen und der Kombi entladen. Auf
dem Flur stapeln sich die Schachteln und Boxen. Wir haben schätzungsweise
200.000 Karten aus knapp 60 Konvoluten übernommen. Heute ist der heißeste
Tag des Jahres. Das Thermometer zeigt 36 Grad im Schatten an.

Alle sind am Packen. Der letzte Büroraum muss noch diese Woche besenrein
übergeben werden. Das Problem: Einige haben an ihrem neuen Arbeitsplatz noch
keine Bleibe. Marianne Veit, zum Beispiel, unsere Produzentin. Sie räumt die
Schränke leer. Da steigen mit jedem Ordner, mit jeder Mappe, mit jedem Bild
Erinnerungen auf. Aufheben? Aber wo? Wegwerfen? Unmöglich. Die letzte
Gelegenheit, aus dem System Dateien zu speichern. "Hotline" schaffen wir
komplett, Aufatmen: Alle Sendungen auf CD konserviert. Bei "Intermedia"
schaffen wir nur das Jahr 2002. Daumen halten, dass der Server nicht schon
morgen abgewürgt sein wird.

Zwischendurch kommen die letzten verbliebenen Mitarbeiter(innen) und fragen:
Wie war's? Wir erzählen vom Hörertreffen, von den schmerzlichen Abschieden
am Stand. Robert Theiler berichtet, dass pro Tag 200 Mails empörter Hörer
eintreffen, die nun ihren Seewetterbericht nicht mehr bekommen.
Wir lesen Mails. Ein Hörer: Als wir begonnen hatten, war er gerade drei
Jahre alt. Ein anderer: Als junger Mensch 1960 zu uns gestoßen, wir sind
"ein Teil seines Tages und Lebens" geworden. Ein österreichischer Missionar
aus Brasilien, für den wir der einzige Kontakt zur Heimat waren... Die APA
hat eine Adieu-Meldung gebracht, zwei Tageszeitungen übernehmen sie: Wir
sind kein Thema mehr.

12:00 Mittagspause. Johannes Stuhlpfarrer hat nur wenig Zeit. Er muss noch
die aktuellen Nachrichten ins Netz stellen. Unsere Website ist bereits
gewaltig abgemagert, aber wir haben uns vorgenommen, bis zum bitteren Ende
ordentliche Arbeit zu liefern. Johannes ist ab morgen arbeitslos - einer der
"freien" Mitarbeiter, die auf der Strecke bleiben. - Gerhard Hoyer (der für
unseren Internetauftritt sorgt) wurde überraschend aufgefordert, ein Projekt
zu beginnen, das mehrere Tage in Anspruch nehmen würde. Aber: in fünf
Stunden fährt er zum letzten Mal den Rechner herunter; auch er ist ab morgen
arbeitslos. - Sabrina Adlbrecht, hören wir, hat doch noch eine Aufgabe im
ORF erhalten. Auch sie war eines der Opfer. Jetzt darf sie als
Karenzaushilfe noch ein paar Monate bleiben…

12:45 Zurück in die Redaktion, den Maurern und Malern ausweichend: Schon
werden unsere Studios und Redaktionsräume für die künftige Verwendung
adaptiert.

17:00 Ich stehe da, den Karton mit den QSLs von OE1M in den Händen. Die
Hörerbetreuung macht dicht, übergibt die "Erbmassse" Wohin damit? Die
Aufkleber für die Abschieds-Bestätigung sind noch nicht eingetroffen. Ich
kann die Schachtel quer über den Flur in die Räume der QSL COLLECTION
bringen. Aber ab morgen ist ROI für die Poststelle nicht mehr existent. Na
ja, zum Glück gibt's ja Postämter. Und für die vielen treuen Hörer, die aufs
Rückporto "vergessen" haben oder die deutsche Briefmarken beilgelegt haben,
werden wir eben aus unserem Taschengeld das Porto beisteuern.

18:30 Christiane Eichberger, die das Sekretriat betreut, geht stumm, nur mit
einem Kopfnicken, an uns vorbei. Ein einziges Wort würde sie aus der mühsam
gewahrten Balance bringen. Kollegin Tosegi packt den Wasserkocher ein. Den
haben wir immer gemeinsam benutzt, daher blieb er uns auch nach Einstellung
der Esperanto-Sendungen erhalten. Gerhard Hoyer bedankt sich bei mir für die
gute Zusammenarbeit; er habe eine Menge gelernt. Er, der so viele unbezahlte
und unbedankte Stunden in unseren Intermedia- und Hotline-Auftritt
investiert hat, bedankt sich bei _mir!_ Der Kerl spinnt. Ich schulde _ihm_
Dank. Da kommen wir eben darauf zu sprechen, wie wir all die Zeit
miteinander umgegangen sind: Wie selbstverständlich wir uns die Arbeit
geteilt haben, all die Jahre ohne ein einziges lautes Wort! Jetzt hängt
Marianne die letzten Bilder ab; da druckst es auch sie.

Kein Brief, kein E-Mail von der Generaldirektion, von der Hörfunkdirektion.
Unser Chefredakteur auf Dienstreise in seiner neuen Funktion. Niemand da,
der Adieu sagt. Wir lassen nicht die Gläser kreisen, denn wir wollen uns am
Wochenende noch einmal treffen, alle, die dazu gehört haben, privat
natürlich.

Es ist ein Abend, wie jeder anderer: Der letzte dreht das Licht aus und
sperrt zu. Und in ein paar Stunden wird die Automatik (hoffentlich) Ö1
zuschalten, wenn bisher eines unserer Programme kam. Abschiedsworte oder
irgendwas dergleichen sind nicht geplant.

Ich habe in Friedrichshafen Baldur Drobnica DJ6SI interviewt. Das war meine
letzte Aktion für ROI. Ich speichere zum letzten Mal eine Datei ab, fahre
zum letzten Mal die Software runter. - Im Unterschied zu den anderen werde
ich, der Pensionist, morgen wieder ins Funkhaus kommen, nun aber definitiv
auf die andere Seite des Flures, dorthin, wo die QSL COLLECTION residiert.
Ich weiss noch nicht, wie die Infrastruktur funktionieren wird (von der
Eintragung im Telefonbuch bis zum Leeren der Papierkörbe...), aber das wird
sich weisen.

Jedenfalls ist dies, wenngleich nur ein halber Abschied, doch einer. Ich
rechne ein bisschen nach: Februar 1946 bis Juni 2003, das macht knapp 57
Jahre. Davon fast 33, mehr als mein halbes Leben, beim Auslandsdienst.
Und jetzt steh ich halt so da und hab den Schlüssel in der Hand und mach den
Laden dicht. Denn ich bin der Letzte. Und der Letzte macht das Licht aus.

Danke, Euch allen, von uns allen.
73 de Wolf

Einmal noch, eh ich's lösche:
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Wolf Harranth
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73 Christoph

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