[A-DX] Fwd: Lektueretipp

Herbert Meixner
So Dez 28 17:06:01 CET 2014


OM Hubert Kubiak mit einem Hinweis etwas OT, aber das Thema Radio kommt 
schon vor ;-)

http://diepresse.com/home/spectrum/zeichenderzeit/4626905/Mit-dem-Skoda-in-den-Luxus

Die damalige Gefuehlswelt vieler unserer Nachbarn wahrscheinlich gut 
treffend und nebenbei einige meiner persoenlichen Erlebnisse in der 
vormaligen CSSR punktgenau wiedergebend.

Mit dem Skoda in den Luxus
26.12.2014 | 18:22 |  Von Lucie Zídková  (Die Presse)

Als ich am Freitag, den 17. November 1989, nach Hause kam, waren die 
Fernsehnachrichten schon vorbei. Ich war zwar erst 14 Jahre alt, die 
frühen Abende durfte ich aber schon selbstständig mit meinen Freunden 
von unserer Neubausiedlung in Prag vier verbringen: meistens bummelnd 
und plaudernd beim einzigen „Einkaufszentrum“ in der Gegend, wo man nach 
16 Uhr kein Brot mehr bekam und das den treffenden Namen Centrum trug.
Ich warf mich aufs Sofa im Wohnzimmer und fragte meine Mutter, was es zu 
essen gebe. Im Fernsehen lief ein Dokumentarfilm über amerikanische 
Eichhörnchen. Ein Programm, das offensichtlich keine Gefahr für die 
Meinungsbildung der tschechoslowakischen Öffentlichkeit darstellte.
Mein Vater, der normalerweise die Naturdokus mit mir anzuschauen 
pflegte, saß diesmal in der Küche, mit dem quietschenden Radio und einem 
Glas Bier vor sich auf dem Tisch. Er hörte Radio Free Europe oder Voice 
of America, einen der verbotenen Sender, die von der kommunistischen 
Regierung so gefürchtet waren, dass man sie nur stark gestört hören 
konnte. Ihr Quietschen und Knirschen war das Geräusch meiner Kindheit.
„Auf der Národní třída“ – der Nationalstraße – „wurde wahrscheinlich ein 
Student ermordet“, sagte er zu mir, als ich meine Suppe abholte.
Es würde pathetisch klingen, würde ich behaupten, dass mit diesen Worten 
meine Kindheit zu Ende war, und doch ist es nicht weit von der Wahrheit 
entfernt. Bis dahin hatte mich die Politik nur wenig angesprochen. Im 
September hatte ich mit dem Gymnasium begonnen und war hauptsächlich an 
den neuen Mitschülern interessiert.
Die kommunistischen Politiker hatten mein Leben höchstens in Witzen 
betreten, die auch schon unter Kindern meines Alters zirkulierten. Die 
Welt war zwischen „ihnen“ und „uns“ aufgeteilt. Nun war einer von „uns“ 
angeblich tot. Wir fühlten uns persönlich betroffen, und ich erinnere 
mich, wie mein Vater sagte: „Damit werden sie nicht mehr so leicht 
davonkommen.“ Es änderte nichts daran, als wir später mit Erleichterung 
erfuhren, dass es sich um ein Irrtum gehandelt und dass der Student 
Martin ?míd die Demonstration noch vor dem Polizeieinsatz verlassen hatte.
In den folgenden Tagen wurde ich von einem völlig unpolitischen Wesen zu 
einer jungen Aktivistin: Ich diskutierte vehement mit den Professoren, 
von denen einige schon vor der Revolution so tapfer waren, dass sie uns 
baten, sie nicht mit „Genosse“ anzusprechen, sondern mit „Herr“ oder 
„Frau“. Etwas, was in den Siebzigerjahren noch nicht infrage gekommen wäre.

Geheimpolizei im Haus

Leute wurden frecher, Politiker gehasst und verspottet, im Freundeskreis 
meiner Eltern gab es kaum jemanden, der noch an die „sozialistische 
Sache“ geglaubt hätte. Nicht einmal die Kommunisten.
Trotzdem war das, was in den folgenden Tagen passierte, keinesfalls 
selbstverständlich. Der Drachen hatte noch viele Köpfe. Ich habe 
zufällig zugesehen, wie ein Mitarbeiter der Geheimpolizei in unserem 
Haus noch im Dezember Václav-Havel-Plakate von der Wandtafel wütend 
herunterriss. Und als ich dann – ein naives, nervöses Mädchen voll von 
Idealen – an seiner Tür klingelte und ihn darauf ansprach, jagte er mich 
mit den Worten: „Du wirst noch sehen, wer diesen Kampf gewinnen wird, du 
14-jähriges Gör!“, von der Schwelle.
Doch „wir“ waren mehr als „sie“: Als ich unter den 750.000 Menschen am 
25. November auf der Letná in Prag fror, war es klar, dass die 40 Jahre 
kommunistische Diktatur in der Tschechoslowakei zu Ende gehen. Das 
Fernsehen fing an, die Ereignisse live zu übertragen, wir sangen „We 
Shall Overcome“, und von der Tribüne sprach Václav Havel. Vier Tage 
später beschloss die Föderalversammlung einstimmig, den 
Verfassungsartikel über die führende Rolle der Kommunistischen Partei 
der Tschechoslowakei zu streichen. Und am 4. Dezember öffneten sich die 
Grenzen zu Österreich. Tschechen (und Slowaken) durften nach mehr als 25 
Jahren raus.
Wenn man nie hinter Gittern gelebt hat, kann man sich nur schwer 
vorstellen, wie attraktiv alles ist, was sich außerhalb befindet. Schon 
während des ersten Wochenendes nach der Grenzeröffnung haben 250.000 
Tschechoslowaken den Grenzstreifen in die freie Welt überschritten. Die 
meisten fuhren natürlich nach Wien. In eine Stadt, die zwar östlich von 
Prag liegt, für uns aber ein Synonym des Westens, der Freiheit – und des 
Luxus – war.
Für meine Familie gab's aber anderes zu tun. Weihnachten stand vor der 
Tür, und eine gute zentraleuropäische Mama musste am Weihnachtstisch 
wenigstens zehn Sorten prachtvoll geschmückter Plätzchen vorlegen. Und 
während meine ältere Schwester Jana, die damals Medizin studierte, mit 
der spannenden Revolution alle Hände voll zu tun hatte, backte und 
schmückte ich schier unendliche Mengen von Kipferln und Ischler Törtchen 
(ja, die haben die fast 70 Jahre währende Trennung unserer Nationen 
unversehrt überlebt!) mit meiner Mutter. Erst nach Weihnachten 
entschlossen sich die Eltern, nach Wien zu reisen.
Als wir am 27. Dezember mit unserem gelben ?koda 120 die Grenze in 
Mikulov/Drasenhofen überschritten, waren wir in Sache „Westen“ 
eigentlich schon Profis. Wir waren nämlich auch schon im vergangenen 
Sommer in Österreich gewesen, nachdem meine Eltern und meine Schwester 
insgesamt 18 Stempel und Bewilligungen von Arbeitgebern und Universität 
bekommen hatten.
Der Schock über die Schönheit und den Luxus hinter der Grenze war 
unbeschreiblich. Die vielen Sorten Salami und Schinken beim Fleischhauer 
im ersten Dorf nach Wullowitz! Und dann die Alpen, die Pelargonien in 
jedem Fenster, und schließlich . . . Hallstatt! Die 
Theaterkulissenromantik dieses Städtchens habe ich nicht verarbeiten 
können: Es wurde mir unwohl, und ich musste mich in unser „funny car“ 
(wie die österreichischen Zöllner unseren ?koda nannten) zurückziehen.
Als wir dann zurück in die Tschechoslowakei wollten, ließen uns die 
Zöllner zweieinhalb Stunden an der Grenze warten, weil es im Fernsehen 
gerade ein Fußballspiel gab und es offensichtlich nicht schadete, uns 
ein wenig im eigenen Saft schmoren zu lassen: Wird man, oder wird man 
nicht, die übrig gebliebenen Schilling, die meine Mutter in die 
Sitzpolster eingenäht hat, finden?
Jetzt, Ende 1989, betrachteten wir erstaunt, wie die Zöllner ein Auto 
nach dem anderen ins Freie winkten. Es war wie in einem Traum: keine 
Kontrolle, einfach rüberfahren. Und schon bummelte ich, warm angezogen 
mit einer von einer alten Verwandten geerbten Jacke, durch Wiens Gassen. 
Es war die Zeit der Euphorie, die uns nicht einmal das Schild an einem 
Geschäft mit der Aufschrift „?eši Nekrást“ (wörtlich: Tschechen nicht 
stehlen) ruinieren konnte.

Besuch bei Herzmansky

Die Wiener waren freundlich zu uns: Einer zeigte uns, wo wir billig 
parken können, ein anderer sagte, wo man einen Stadtplan bekommt. Wien 
war prachtvoll, auch wenn es kalt und grau war. Und hinter den 
hektischen Wienern roch die Luft noch ein paar Sekunden nach erlesenem 
Parfum!
Sie saßen elegant angezogen in warmen, gemütlichen Cafés, über deren 
Geschichte uns mein Vater erzählt hatte, und schauten uns neugierig an: 
Wir waren in unseren alten Kleidern und einem Stadtplan in der 
frierenden Hand leicht zu erkennen.
Nur zweimal gingen wir in die Wärme: ins prachtvolle Kaufhaus 
Herzmansky, wo uns mein Vater mit leiser Stimme die tschechischen 
Wurzeln der Familie erläuterte und wo ich mich bemühen musste, meinen 
Mund geschlossen zu halten. Und dann bei McDonald's; das WC war damals 
wie heute kostenlos. Und dort bekamen wir auch unsere ersten „treats“: 
meine Schwester und ich je eine Büchse Cola (bei uns nur zu Weihnachten, 
dafür aber im Glas) und meine Mutter einen kleinen Cappuccino.
Wir fühlten uns wie Könige, für ein paar Momente gleich den Wienern, die 
um uns saßen, und nippten an unseren Getränken so langsam wie möglich. 
Und dachten nicht daran, dass die Erfrischung meinen Vater 18-mal so 
viel gekostet hatte wie die Wiener um uns.
Gut, dass wir damals nicht wussten, dass auch noch in 25 Jahren unsere 
Kaufkraft noch ein Drittel der Kaufkraft der Einheimischen sein und 
unser Präsident die Weltpresse mit einer Schimpfeskapade füllen würde. 
Aber das ist eine andere Geschichte. Lassen wir uns die Freude an dem 
wundersamen Wandel vor 25 Jahren nicht verderben! ■

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Mit Gruss,
Herbert