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[A-DX] Stumpft der Mensch vom Gaffen ab ?



Hallo KW-Freunde,

Radio ist das eindringlichste Medium, das es gibt. Wenn ich über den Funk
spreche, dann meine ich damit richtiges Radio und nicht das Zeug, auf dem
>Antenne< steht oder >Energy< oder  >Gong< oder sonst etwas Unvorstellbares.
Die Ballerbuden mit Rundumdieuhrgeschrei, Geldverschenkgebrüll und
anzüglichen Morgen-Crews können bitte dichtmachen und für immer aus dem
Äther verschwinden. Für diese irreführenderweise >privat< genannten
kommerziellen psychopathologischen Belästigungen wurde möglicherweise der
Kapitalismus ausgeheckt, ganz sicher aber nicht das Radio.

Denn das Radio an sich ist gut. Eine bessere Schule des Schreibens gibt es
nicht - der Radioautor muss auch die komplexesten Gegenstände klar und
verständlich darlegen; seine Hörer können schließlich nicht zurückblättern.
Der Radiohörer hat eine Chance und nur diese eine -und die muss er auch
bekommen. Der Weg zwischen Sprechermund und Hörerohr darf nicht mit
sprachlicher, also geistiger Insuffizienz vollgeklumpatscht werden. Das
menschliche Trommelfell zählt zu den zartesten unter den Organen. Wenn man
gut zu ihm ist, dankt es das mit Großzügigkeit. Die ganze Welt lässt das Ohr
in uns hinein, und es hat tatsächlich die ganze Welt in uns Platz.
Das Auge ist leicht bestechlich und quasi der Luffi unter den Sinnesorganen,
weshalb auch die alte anthropologische Frage - Stumpft der Mensch vom Gaffen
ab? - wahrheitsgemäß nur mit Ja beantwortet werden kann. Das geübte Ohr aber
ist fein; keine Lüge entgeht ihm, kein falscher Ton.

Auch dafür muss man das Radio lieben: Es zeigt, dass Sprache nie nur Inhalt
und Form ist, sondern immer auch Klang. Wörter haben eine onomatopoetische,
lautmalende Komponente; wer sie vernachlässigt, wird nie erfahren, was
Poesie ist. Um so unbegreiflicher ist, warum das Radio sein ureigenes
Terrain der Klarheit, der Schönheit und der Wahrhaftigkeit aufgibt zugunsten
eines Konsensgegurkes und -gemurkses, das einem die Tränen in die Ohren
treiben kann.

Warum Formatradio? Wozu zwanghafte Doppelmoderationen? Wieso Geschnatter und
Geknatter? Weshalb nicht altmodisch das Richtige tun? Gute Texte aller
Genres von Menschen  sprechen lassen, die diese Texte in Inhalt, Rhythmus
und Melodie verstehen und ihnen durch  ihre markanten und angenehmen, also
verbindlich anschleimfreien, unaufdringlichen Stimmen noch den akustischen
I-Tupf geben? Und diese Texte mischen mit der schönsten Musik? Es ist  alles
in Hülle und Fülle vorhanden der Griff zum modischen Quark vollzieht sich
ohne Not.  Schließlich gibt es nichts Peinlicheres als die Mode von vor
anderthalb Stunden.

Wer Radio machen will, braucht ein freies Herz, einen guten Verstand und
offene Ohren. Dünkel, egal welcher Art, kann nur schaden. Wenn aus
Kulturradios Kulturunmutbuden oder  sogar Kulturunmutzumutungsbuden werden,
verhilft das zwar dem Buchstaben >u< zu größerer Verbreitung, sonst aber
niemandem. In öffentlich-rechtlichen Sendern, die nicht umsonst  Anstalten
heißen, ist es gängige Praxis, Redakteure mit täglichen Sitzungsritualen zu
entmutigen und zu quälen, um sie zu stromlinisieren, ihnen den Schneid
abzukaufen und sie davon  abzubringen, gemeinsam mit ihren Autoren Sendungen
auszubaldowern und zu erfinden, die der Welt Schönheit hinzufügen statt
weiteren überflüssigen Gargel. Das Fernsehen erzählt schon lange nichts mehr
über die Wirklichkeit, sondern nur darüber, was  das Fernsehen aus der
Wirklichkeit macht und wie es Ersatzwirklichkeit schafft. Fernsehen ist  das
Präservativ der Wirklichkeit. Ihm darin nicht zu folgen ist nicht nur die
große Chance des  Radios, es ist auch seine einzige.

Dert Text ist nicht von mir, sondern wurde von Wiglaf  Droste als
Gastkommentar für den Deutschlandfunk Heft April 07 geschrieben.

Ich hoffe, Ihr hattet viel Spaß damit
73 Wolfgang S.

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