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[A-DX] "Wellenritt um Mitternacht"


  • Subject: [A-DX] "Wellenritt um Mitternacht"
  • From: "paul gager" <aon.912332257@xxxxxx>
  • Date: Sun, 17 Feb 2008 18:25:04 +0100

http://einestages.spiegel.de/static/authoralbumbackground/1404/das_gemurmel_der_welt.html

Wellenritt um Mitternacht

Hafenkonzerte, Wasserstandsmeldungen und Wildfütterungen live: In der
Medienwelt, die SPIEGEL-Autor Nikolaus von Festenberg als Kind prägte, waren
Radio- und TV-Sendungen noch ein hoheitlicher Akt der Zuteilung - um die
seltsamen Rundfunkrituale zu goutieren, war Fantasie gefragt.

[...]

Verwandtengrüße über Norddeich-Radio

Interessant an solchen Erinnerungen erscheint mit heute der Zauber der
Sprödigkeit. Was wir von der Welt aus Luhmanns Medium-Kasten als erstes
lernten, war: Die Welt ist, wie sie ist, uns braucht sie sich nicht zu
erklären, Euch schon gar nicht. Eure Phantasie ist eure Phantasie, aber
unsere Botschaft ist unsere Botschaft.

Und doch, das Radio, so öde es war, muss das Kind in seinen Bann geschlagen
haben. Denn das Kind suchte und suchte, auch wenn es nichts fand. Suchen am
Neckar bei Plochingen. Suchen, wenn die "Geisterstimme von 17 und vier" das
Gesuchte vorab verriet. Wenn der Suchdienst des Deutschen Rotenkreuzes nach
Namen von Vermissten fragte, wenn das Arbeitsamt für den nächsten Morgen
Transportarbeiter suchte, wenn das "Hafenkonzert" am Sonntag ab sechs Uhr
früh tutete.

Es rann aus dem grauen Kasten das Gemurmel einer Welt, die an den Grenzen
des NWDR nicht endete. "Zwischen Hamburg und Haiti" hieß eine rituell
sonntägliche Grenzüberschreitung. Grenzüberschreitend flatterten
Verwandtengrüße über Norddeich-Radio zum deutschen Seemann, wenn es
weihnachtete.

Eine Brokatdecke für das Zyklopenauge

Die Schule, wo die Strenge wohnte und die Lateingrammatik, hatte die
heimlichen Radioleidenschaften des Knaben noch nicht entdeckt.
Medienpädagogik war der Fluch erst späterer Epochen. Der einsame,
phantasierende, ritualverliebte Entdecker war der typische junge Konsument
der Rundfunkjahre. Und das Radio in seiner ganzen schrulligen Eigenheit und
in seinem bildungsbürgerlichen Ehrgeiz hatte etwas von den
Trümmergrundstücken, die es in den fünfziger Jahren gab. Nichts war perfekt,
überall Nischen und Lücken und wenige Spielplätze.

Dann kam das Fernsehen. Es sank hernieder wie Kubricks Quader in der
"Odyssee im Weltall". Wir frühzeitlichen Radiomenschen umtanzten den Kasten.
Der roch ganz speziell. Es war der Duft von Holz, von seriöser Bürowelt, von
Schwere. Der Fernsehkasten schien sich nach einem Standplatz in der Nähe von
Bücherregalen zu sehnen. Er wollte sich als Kultur tarnen, wäre da nicht der
ordinäre Bildschirm gewesen, dieses glotzig-glasige Zyklopenauge. Meine
Mutter bedeckte den Fernseher sogleich mit einer Brokatdecke.

Dabei war das Gerät auf Pump der unfeinsten Art gekauft worden: An der
Rückseite war ein Kasten angebracht, der Münzen für jede Stunde der
Benutzung schluckte. So schnell war nichts bei uns je abgezahlt worden.
Unter der Brokat-Decke entdeckte der junge Mensch auch nicht viel anderes,
als das, was der graue Wehrmachtskasten hergegeben hatte. Ich erwartete das
auch nicht. Ich stieg aufs Pferd und ritt los - in den Schnee.

Live-Übertragung von der Wildfütterung

Wie der Rundfunk bestand das Fernsehen bis in die sechziger Jahre hinein aus
Pausen. Reiter aber sind ungeduldig und wollen wissen, was vor dem
Programmbeginn los ist. Denn Wunder schienen möglich. Um vier am Nachmittag
fiel der schwarz-weiße Schnee, Zeichen für elektronisches Nichts. So muss es
ausgesehen haben, wenn ein Römer zu seiner Zeit den Fernseher eingeschaltet
hätte oder Luther auf der Wartburg. Schon wieder deckte die Phantasie die
Lücken des Mediums zu.

Fernsehen war keine Reihung von Höhepunkten, sondern Ritual. Das TV-Pendant
zu Seewetterberichte und Wasserstandsmeldungen war, wenn Irene Kosz sagte
"Guten Tag, liebe Kinder". Oder wenn die Umschaltung nach Berlin fast fünf
Minuten dauerte und mit dem optischen Knüller "Wir schalten um nach Berlin"
bebildert wurde. Ich erinnere mich auch an Live-Übertragungen von der
Wildfütterung im Hochharz.

Wir, die älter werdenden Radiokinder, kamen im Fernsehen nicht wirklich vor.
Wir kannten das. Wir hatten das Rituelle des Radios zu besiedeln versucht;
das Fernsehen hatte Bilder und machte die Besiedlung schwerer. So kam das
Buch zurück - die Sentimentalität der vorlesenden Großmutter war nicht
vergeblich gewesen. Oostschwenkende Hochkeile und wachende Seeleute hatten
ihre Chance gehabt, aber sie konnten nicht so zaubern wie Dickens. Der Ritt
in die Medien war eine erste Erfahrung mit Einsamkeit, mit enttäuschter
Zuneigung. Fernsehen hing mit Fernsichtigkeit, mit Brille, mit Übersehen
zusammen.

Aber nicht mit Leidenschaft.

73,
Paul



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